Undercover-Mosaik-Spezial// Freitag, 17. Februar
8. February 2017Salzburg ist nicht weit, Salzburg ist ein mosaik auf der Karte der Lesereihen und Literaturzeitschriften. Diesmal ist das mosaik-Team geladen, sich mit Salon Fluchtentier zu vermischen. Sie unterhalten einen Literaturblog und veröffentlichen Buchprojekte. Zeit und Freundschaft sind reif für Undercover + mosaik.
Ort: Elfer Music-Club
Klappergasse 5-7
Einlass: 19.00h
Eintritt: 5/3 €
Eine Veranstaltung von Salon Fluchtentier.
U.a. bin ich auf der Bühne.
Emanzipiert einsam
26. January 2017Friederike Gösweiners Roman „Traurige Freiheit“ thematisiert die prekären Lebensumstände der „Generation Praktikum“. Hannah, die 30-jährige Protagonistin, zieht für ein journalistisches Volontariat nach Berlin und jobbt dort als Kellnerin. Ihre neue Freiheit wird zu einem Fall in die Tiefe. Riccarda Gleichauf hat das Buch gelesen.
“Traurige Freiheit“ von Friederike Gösweiner hat kürzlich den Österreichischen Buchpreis in der Kategorie Shortlist Debüt bekommen. Es ist ein wichtiger Text, weil er ein Thema anspricht, das viel zu wenig im öffentlichen Diskurs wahrgenommen wird. Er geht um die Kinder der 1980er, die „Generation Praktikum“, die doch eigentlich alles hat, die sich nun wirklich nicht beklagen kann.
Vordergründig ist es vielleicht so, dass auch AkademikerInnen über kurz oder lang eine gutbezahlte Arbeit finden, wenn sie sich nur richtig anstrengen. Dabei ist Vorsicht geboten. Die Arbeitslosenzahlen in Deutschland sinken laut Statistiken zwar fleißig, aber sie sprechen nicht davon, welche Jobs arbeitslose JournalistInnen zum Beispiel irgendwann aus der Not heraus annehmen. Hannah aus „Traurige Freiheit“, kurz vor dem vollendeten 30. Lebensjahr, sucht sich den für Frauen typischen Notnagelberuf aus. Sie wird Kellnerin in einem Café. In die Stadt Berlin ist sie gezogen, weil ihr freiheitsverheißender Ruf, aber vor allem ein Volontariat bei einer Zeitung sie dorthin lockt. Sie muss sich dafür von ihrer großen Liebe, einem Arzt, trennen, weil dieser weniger emanzipiert ist als sie selbst. Jakob versteht nicht, warum seine Freundin sich nicht von ihm aushalten lassen will, sondern ihren eigenen beruflichen Weg gehen möchte.
Die permanente Erinnerung an den Ex-Freund macht die Freiheit zu einer traurigen Freiheit oder vielmehr zu einer traurigen Einsamkeit. Mit Freiheit hat dieser Zustand nichts mehr zu tun. Es geht um die Einsamkeit als abgrundtiefe, bodenlose Emotion.
Dabei könnte sie auch kreative Kräfte wecken oder wenigstens produktive Wut. Stattdessen versinkt die Protagonistin nach Beendigung des Volontariats und ohne Jobaussichten in Hoffnungslosigkeit und rationalisiert diesen Zustand, um ihn damit gleichzeitig zu bagatellisieren – ein typisches Verhalten für AkademikerInnen:
„Vielleicht fühlten alle diese Aussichtslosigkeit, die sie fühlte. Vielleicht war dieses Gefühl normal. Vielleicht war das einfach das Erwachsenenleben, immer schon gewesen, und sie waren nur in keiner Weise darauf vorbereitet worden.“
Man muss schon laut werden
Auf eine Sache wird man als Geisteswissenschaftlerin im Studium auf jeden Fall nicht vorbereitet. Auf die Tatsache, dass da draußen niemand exklusiv auf dich wartet, dass es eine Illusion ist, dass du nur Bewerbungen schreiben musst, und schon nehmen sie dich mit offenen Armen. Man muss schon laut werden, Aufmerksamkeit erregen, Vitamin B haben oder zumindest einen Shitstorm im Netz provozieren, um sichtbar zu werden. Auch das erkennt Hannah irgendwann, als sie von einem öffentlich bekannten Journalisten im Café angesprochen wird. Ihr ist es wichtig, diesem interessanten älteren Mann direkt zu zeigen, dass sie keine Kellnerin ist, sondern sich nur hinter diesem Beruf versteckt, sich an ihn klammert, weil ihr sonst keine Chance gegeben wird, sich zu zeigen:
„Ich habe Zeitgeschichte studiert, sagte Hannah, während sie an der Bar hantierte, und wunderte sich über sich selbst, dass sie es nötig fand, dem Mann sofort klarzumachen, dass sie nicht nur Kellnerin war, sondern Akademikerin.“
Der weitere Verlauf der Geschichte ist klar vorgezeichnet, weil ein Klischee bedient wird, in dem leider viel Wahres steckt. Sie will den fremden, mächtigen Journalisten, Herrn Stein, inhaltlich von sich überzeugen – er sucht eigentlich nur das Eine. Vielleicht möchte er auch mehr, genießt ihre unterhaltsame und kluge Gesellschaft als Sahnehäubchen obendrauf. Letzlich kommt Hannah zusammen im Gespräch mit ihrer einzigen Freundin Miriam aber zu dem Schluss, dass „er sich für sie interessierte, als Frau, nicht oder zumindest nicht nur als Kollegin.“
Was sie bisher von Herrn Stein gehalten hat, ist blauäugig gewesen und typisch für ihren Charakter, ihre Art, positiv über die Welt zu denken. Immer viel zu viel zu erhoffen, und letzlich passiv in eine Warteposition zu verfallen, die sie in eine abhängige Situation, vergleichbar mit der einer Gewächshauspflanze, bringt. Als bedürftiges „Pflänzchen“ braucht Hannah jemanden, der sie regelmäßig mit Wasser und Licht versorgt. Bleibt das aus, wird der Boden spröde, die Luft knapp, und die Blätter welken.
Als Herr Stein zu seiner Familie in die Sommerferien fährt, beginnt für Hannah endgültig der Boden zu schwanken, weil ihr einziger energiegeladener Halt in der Großstadt sich als Luftschloss, als ein unwirkliches Gebilde noch nicht erwachsen gewordener, schambehafteter Kleinmädchenträume entpuppt. Aufwachen, möchte man der Protagonistin zurufen, und sie heftig an den Schultern packen. Der ungebremste Fall in die Tiefe ist aber vorprogrammiert, und es ist eine Schwachstelle des Textes, dass gerade die surrealen Szenen weiterhin linear erzählt werden. Ein Bruch mit der Form hätte eine Vielstimmigkeit erzeugt, den gehäuften inhaltlichen Klischees (Berlin = Freiheit, Frau = Kellnerin, mächtiger Mann = mögliches Karrieresprungbrett) eine Tiefendimension verliehen, und die bekannten Motive damit semantisch infrage gestellt. Die Protagonistin wäre interessanter, weil charakterlich vielschichtiger geworden. Aber das ist Geschmackssache, und linear verlaufende Texte sind, man denke an Bodo Kirchhoff, der den Deutschen Buchpreis dieses Jahr gewonnen hat, in Mode, und ja auch irgendwie angenehm, weil gut verständlich.
Das dreißigste Jahr. Unweigerlich muss man an die gleichnamige Erzählung von Ingeborg Bachmann denken, an dieses verflixte Jahr, und an die Stimme am Ende, die sagt: „Steh auf und geh, es ist dir kein Knochen gebrochen“. Bei Friederike Gösweiners Protagonistin kommt sie von innen heraus und drängt darauf, sich wieder in Bewegung zu setzen:
„Zeit zu gehen, dachte Hannah“.
Es ist spannend nicht zu wissen, wohin.
Gut beobachteter, zeitloser Artikel aus dem Jahre 2014
25. January 2017POP UND DEPRESSION- Gefühle des Ungenügens
Das klischierte Idealbild des Künstlers – kreativ, autonom, authentisch, aus der eigenen Qual schöpfend – ist in neoliberalen Zeiten zur Hauptinspiration der Ökonomie geworden. Mit dem Euphemismus Burn-out bezeichnete Depressionserkrankungen sind gesellschaftliche Normalität.
»A comedic genius, a real mensch, a sad clown«, schreibt das Time Magazine über Robin Williams, der sich im August das Leben nahm. Williams litt seit Jahrzehnten unter Depressionen. Bekannt war er als Komödienschauspieler, als Stand-up-Comedian war er aber interessanter: »I was once on a German talk show, and this woman said to me, ›Mr. Williams, why do you think there is not so much comedy in Germany?‹ And I said, ›Did you ever think you killed all the funny people?‹« Und über einen Rückfall in seine Alkoholsucht sagte er: »It’s trying to fill the hole. It’s fear, you’re kind of going, ›What am I doing in my career? … Where do you go next?‹«
Das Bild des tortured artist, des Künstlers, der Werke aus seinen seelischen Qualen erschafft, durchzieht die Kunst- und Popgeschichte, und Suizide wie der von Williams regen erneut zu Spekulationen über psychisches Leiden als Quelle von Kreativität an. Die Blogs, Kommentare und Nachrufe geben zu verstehen, dass Williams deshalb so lustig war, weil er so traurig war. Das Verhältnis könnte aber auch umgekehrt sein, vielleicht ist es der Zwang, kreativ zu sein, der deprimierend auf Künstler wirkt. Ist der Imperativ der Kreativität Quelle von Leiden, so betrifft uns das alle, denn Kreativität ist in westlichen Gesellschaften zum prägenden Prinzip von Lebensformen ebenso wie der ökonomischen Wertschöpfung geworden.
Das Versprechen der Kreativität
Interessanter als Ferndiagnosen über die psychische Konstitution von Künstlern ist der Zusammenhang von Kreativität und Erschöpfung jenseits individueller Biographien. Die Lebensführung von Künstlern, die als kreativ, autonom und authentisch gilt, ist zur Inspiration einer Ökonomie geworden, die mehr auf Selbstausbeutung als auf Fremdbestimmung setzt – zumindest in den wissensbasierten Branchen. Arbeit soll als Teil der Selbstverwirklichung begriffen werden, man soll glauben und glaubhaft machen, dass man um der Sache willen arbeitet, l’art pour l’art, und nicht etwa, um sich seinen Lebensunterhalt zu sichern. Ein Leben fernab routinisierten Alltags und versehen mit dem Versprechen, bei der Arbeit die Person zu sein, die man ›wirklich‹ ist – und nicht bloß eine Rolle auszufüllen –, ist weit über die Grenzen der Künstlermilieus hinaus zu einem Idealbild gelingenden Lebens geworden. Einer Arbeit nachzugehen, die mit der eigenen Person identisch ist, sich nicht verstellen zu müssen zwischen 9 und 17 Uhr, seine Arbeitszeiten selbst bestimmen zu können, nicht entfremdet zu sein – das Künstlerleben verspricht es, und unzählige Jobs tun es ebenfalls.
Dieses Versprechen ist der neue Geist des Kapitalismus, wie ihn Luc Boltanski und Ève Chiapello beschreiben. In ihm haben Unternehmen die Kapitalismuskritik der Sechziger- und Siebzigerjahre aufgenommen und daraus neue Managementstrategien entwickelt. Die Kritik an den fremdbestimmten Arbeitsformen des Taylorismus, die die Authentizität von Personen bedroht, wird als Künstlerkritik bezeichnet, weil die Künstlerexistenz seit dem 19. Jahrhundert von der Aufhebung der Trennung zwischen Arbeits- und Freizeit und der Einheit einer Arbeit und dem, der sie ausführt, geprägt war. Im von der Künstlerkritik inspirierten neuen Geist des Kapitalismus wird eine solche Existenz in Aussicht gestellt und die Forderung nach Selbstverwirklichung durch selbstbestimmte Arbeitszeiten und Wertschätzung für kreative Ideen scheinbar erfüllt. Die Ideale von Authentizität und Autonomie binden auch die vielen Freelancer an einen Lebensentwurf, der sie zwar arm macht, es ihnen aber ermöglicht, in Projekten zu arbeiten, mit denen sie sich identifizieren.
Die Serie Girls von Lena Dunham ist auch deshalb ein gelungenes Generationenportrait nach der Rezession, weil sie die Prekarität und Vulnerabilität einfängt, die mit dem Wunsch nach kreativer Selbstverwirklichung einhergeht. Die Mittzwanzigerin Hannah aus Brooklyn, die mit obsessive compulsive disorder (OCD) diagnostiziert ist, versteht sich als Schriftstellerin und kämpft immer wieder dagegen an, Jobs anzunehmen, die zwar ihren Unterhalt sichern, aber ihr Künstler-Selbst zu verschütten drohen. Ihre OCD-Medikamente nimmt sie nicht, weil sie sie zu schläfrig machen, um ihr e-book zu schreiben. Kokain dagegen nimmt sie, um genug Aufregendes zu erleben, das es wert wäre, literarisch verarbeitet zu werden. Hannah unterwirft ihre Lebensführung ihrem kreativen Selbstbild. Arbeit und Privates sind vollständig verschmolzen, denn sie versucht ihr Leben so zu leben, dass es als literarische Vorlage taugt.
Burn-out – ein exogenes Leiden
Tragisch sind solche Entgrenzungen von Arbeit und Freizeit da, wo nicht ein eigenes Buch der Zweck der Verausgabung ist, sondern die Kennzahlen der Abteilung. Die Eigenverantwortung, die vielen Mitarbeitern in Unternehmen zugestanden wird, ermöglicht zwar kreativen Spielraum, ist aber auch ein sehr effektives Steuerungsinstrument – denn wer keine festen Arbeitszeiten hat, aber das, was er tut, als seine Leidenschaft begreift, arbeitet mehr und nicht weniger. Hinzu kommt, dass Erfolg in den neuen Arbeitsformen nicht danach bemessen wird, ob eine vorher festgelegte Aufgabe bewältigt wurde, sondern danach, ob sie besser bewältigt wurde als durch die Konkurrenz. Das unternehmerische Selbst unserer Zeit leidet an der ständigen Angst, nicht ausreichend viel geleistet zu haben, weil die Umstände seines Erfolgs nicht planbar sind – ebenso wie bei Künstlern. Das Ineinandergreifen von Authentizitätsversprechen und Marktdruck führt dazu, dass den Menschen zwar Innovationsfähigkeit und Beweglichkeit abverlangt wird, die Selbstverwirklichungswünsche der meisten aber enttäuscht werden. Spätestens wenn Misserfolge eintreten und Anerkennung ausbleibt, bekommen sie das Gefühl, ihre wertvolle Subjektivität investiert zu haben, nicht aber damit belohnt zu werden, sich identisch mit sich selbst zu fühlen.
Von solchen Gefühlen berichten Burn-out-Patienten, die aufgrund umfassender körperlicher und emotionaler Erschöpfung krankgeschrieben werden. Was Burn-out neben der schieren Überanstrengung nämlich ausmacht, ist eine Enttäuschung, die nach Gratifikationskrisen bei denen einsetzt, die stark mit ihrer Arbeit identifiziert sind und sich deshalb ganz von ihr vereinnahmen lassen. Passend dazu wurde Burn-out zuerst im Sozialarbeitermilieu der Siebzigerjahre diagnostiziert. Wer ausbrennt, hat über längere Zeit versucht, seinen eigenen Ansprüchen und Idealen gerecht zu werden, und den Einsatz immer weiter erhöht, wenn sich die Bedingungen verschlechterten. In den Medien und Ratgebern wird Burnout als ein Leiden charakterisiert, das den Betroffenen einen hohen Einsatz bescheinigt, ihnen aber nicht als Makel anhaftet, denn schon ein schonender Ressourcenverbrauch löst vermeintlich das Problem. Burnout hat man – depressiv ist man.
Medizinisch ist Burn-out keine anerkannte Diagnose und wird ebenso behandelt wie eine Depression, dennoch stieg die Zahl der Krankheitstage aufgrund von Burn-out in den letzten zehn Jahren um das 18-fache. Was die breite Identifikation mit Burn-out gesellschaftsdiagnostisch interessant macht, ist, dass es ein psychisches Leiden bezeichnet, das als exogen betrachtet wird. Seit dem Siegeszug der Neurowissenschaften und der Entwicklung moderner Psychopharmaka ist es kaum noch möglich, die Ursachen für gefühltes Elend jenseits des Gehirns zu verorten – zum Beispiel in der Gesellschaft. Das Sprechen über Burn-out aber öffnet eine Tür für Kritik an den Zumutungen der kapitalistischen Gesellschaft der Gegenwart, wie viele Beiträge in dem Buch Leistung und Erschöpfung. Burn-out in der Wettbewerbsgesellschaft zeigen. Die Ursachen für Burn-out werden in der modernen Arbeitswelt, der Erfolgskultur, der Wettbewerbsgesellschaft und der beschleunigten Lebensführung der digitalisierten Moderne gesehen. Nicht in den Genen.
Gefühle des Ungenügens – eine Pathologie der Größe
Je stärker der Ruf nach Aktivität, schöpferischer Kreativität und eigenverantwortlicher Gestaltung, desto trauriger, erschöpfter und depressiver werden viele – paradoxerweise geht der Wunsch, nur seinen eigenen inneren Motiven zu folgen, sich nicht zu verstellen und nicht zu verbiegen, mit der Anforderung einher, einmalig und unverwechselbar zu sein und sich darin ständig zu verbessern. Es geht darum, eine außergewöhnliche Version seines eigenen Kernselbst zu entwickeln. Das Reaktionäre dieses Authentizitismus hat Diedrich Diederichsen in Polar beschrieben: »Erfinde Dich neu und sei Du selbst, also erfinde Dich haltlos und bodenlos neu und verkörpere das so, als wäre das immer schon Deine Natur gewesen! Oder noch schlimmer: Erfinde Dich nicht einmal haltlos, sondern den herrschenden Marktanforderungen entsprechend neu und benimm Dich so, ja glaube an die Wahrhaftigkeit, Authentizität und Traditionalität Deiner Erfindung! Identifiziere Dich!«
Alain Ehrenberg, Autor von Das erschöpfte Selbst, begreift die Depression als eine Müdigkeit, man selbst zu sein. Die Gesellschaft der Gegenwart ist weniger als frühere Gesellschaften durch starre Normen und Verbote charakterisiert und belohnt nicht mehr wie die Disziplinargesellschaft Konformität. Die sozialen Handlungsideale sind heute Autonomie und Eigenverantwortung. Nicht mehr die auf Schuldgefühlen basierende Neurose prägt psychisches Leiden, sondern die Depression, eine Krankheit der Verantwortlichkeit. »Die Depression«, so schreibt Ehrenberg in dem von Juliane Rebentisch und Christoph Menke herausgegebenen Band Kreation und Depression, »als deren Hauptmerkmal man einen Verlust an Selbstachtung ausmachen kann, ist eine Pathologie der Größe: Die deprimierte Person ist der Aufgabe der Selbstwerdung nicht gewachsen; sie zermürbt sie vielmehr. An die Stelle der alten bürgerlichen Schuld und des Kampfs der Befreiung von der Gesetzesmacht des Vaters ist nun die Angst getreten, man könnte möglicherweise seinen eigenen hohen Idealen nicht gerecht werden, wodurch ein Gefühl der Unfähigkeit, des Ungenügens entsteht.«
In den USA werden mehr als siebzig Prozent aller Suizide von weißen Männern mittleren Alters begangen, in dieser Hinsicht ist der Tod von Robin Williams also ein typischer Fall. In anderer Hinsicht war sein Leiden nicht paradigmatisch, denn Depressionen sind kein Wohlstandsleiden, das diejenigen erfasst, die keine materielle Not kennen: Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status sind sogar noch häufiger depressiv. Gefühle des Ungenügens, der Angst, seine Optionen nicht zu nutzen und die eigenen Potenziale nicht auszuschöpfen, verbinden also die sozialen Klassen. Tröstlich ist es nicht.
Der Text von Greta Wagner, Mitherausgeberin des Buches »Leistung und Erschöpfung. Burn-out in der Wettbewerbsgesellschaft«, ist als Teil des Schwerpunkts Pop & Depression in SPEX °356 erschienen. Alle weiteren Beiträge zum Thema finden sich in der Printausgabe, die versandkostenfrei im SPEX-Shop erhältlich ist.
wieder ein jahr
14. January 2017verschluckst du
die sonne
weil du angst vor
dem untergang hast
vibriert
mein dirty talk
als handyklingelton
in deiner hosentasche
berühren sich
unsere seelen
weil sie sich schon
so lange kennen
sind wir nicht mehr ganz neu
und doch.
Drahtseilakt am Anfang eines Jahres
10. January 2017lass mich
lass mich nicht
fallen
solange die drahtseile
auf denen ich balanciere
mich nicht erhängen
& meine akte
dir noch imponieren
Klassengesellschaft in Deutschland// Rückkehr nach Flörsheim
26. December 2016Unsere Autorin las Didier Eribon – und fühlte sich zum ersten Mal verstanden. Sie weiß, was es bedeutet, den gesellschaftlichen Aufstieg zu wagen.
BERLIN taz
„Wie? Nicht mal Religionslehrerin wirst du?“ Das ist einer von meinen Gespenstersätzen. Er stammt von meiner Mutter und steht in meinem Erinnerungsregal mit ihren Sinnsprüchen gleich neben „Du glaubst wohl, du bist was Besseres.“ Erwachsen ist man, wenn man feststellt, dass die Gespenster der Vergangenheit keine weißen Bettlaken tragen, nicht fliegen und nicht „Hui“ sagen. Sondern wenn man feststellt, dass die Sätze der Eltern die Gespenster sind, die man nicht los wird.
Den Satz mit der Religionslehrerin sagte meine Mutter zu mir, als ich versuchte, ihr zu erklären, was ich an der Uni treibe. Zugegeben, mit Religionswissenschaft habe ich es ihr nicht gerade leicht gemacht. Selbst Leute mit bürgerlichem Hintergrund und Hochschulabschluss in Germanistik wissen nicht, was das ist. Wenn ich meine Mutter an ihren Satz erinnere, lacht sie und sagt: „Stimmte doch auch.“ Stimmte ja auch. Ich bin keine Religionslehrerin. Sie versteht nur bis heute nicht, warum ich den Satz trotzdem schlimm finde. So wie sie bis heute nicht versteht, dass ich Karlheinz Böhm nicht mag.
„Was magst du eigentlich? Hauptsache dagegen“, hatte sie mir immer gesagt, wenn ich irgendwas, was sie gut fand, nicht so gut fand. Vielleicht hatte sie Recht. Ich war ein Papakind. Meine jüngere Schwester das Mamakind. Alles, was Mutter tat, dachte, mochte, war mir suspekt. So wie ihr suspekt war, was ich tat, dachte, mochte.
Aber wie soll sie mich auch verstehen. Mich, der ich ihren Satz „Nicht einmal Religionslehrerin wirst du“ in den Stand eines Kronzeugen berief. Dort repräsentiert er das komplette Unverständnis einer Mutter aus der Arbeiterklasse für das, was ich mit meinem Leben anstellte. Und das stellte ich so an, wie ich es später bei dem Schriftsteller Saul Bellow gelesen hatte: „Ich gehe die Dinge im Freistil an, so wie ich es mir selbst beigebracht habe.“ Ohne Rücksicht auf Kontostand und Rente.
Ätzende Enge in Arbeiterhaushalten
Als ich diesen Sommer „Rückkehr nach Reims“ las, das autobiografische Buch des französischen Soziologen Didier Eribon, hatte ich ein Gefühl, das derzeit wohl vor allem AfD-Wähler haben: „Endlich sagt mal jemand, wie es ist.“ Und nicht nur, weil mich der Satz seiner Mutter – „Soziologie? Hat das was mit der Gesellschaft zu tun?“ – an meine Mutter erinnerte. Ich bin weder homosexuell noch Universitätsprofessorin, und auch in vielen anderen Details unterscheidet sich meine Familie deutlich von der Eribons.
Trotzdem: Es war das erste Mal, dass jemand in meiner linken, bürgerlichen Filterblase über seine Herkunft aus einer Arbeiterfamilie so über diese redete, wie es Linke nicht so gern hören: wie ätzend eng es in Arbeiterhaushalten ist, räumlich, ökonomisch, geistig und emotional. Er thematisiert, was für bürgerliche Linke kein Thema ist: Dass man als Exot mit proletarischer Herkunft keinen profitablen Sonderstatus in der bürgerlichen Welt hat, sondern einen hohen Preis zahlt: den radikalen Bruch mit der eigenen Herkunft, die man dennoch nicht los wird.
Als Klassenflüchtling musste ich alles neu lernen: wie man denkt, spricht, sich benimmt. Das heißt lernen, was es überhaupt bedeutet, sich mit einem Gegenstand auseinanderzusetzen. „Ach, du immer mit deinen Ideen“, beendete meine Mutter jedes Gespräch, das meine Fragen an die Welt, an sie, an mich zum Gegenstand hatte. Als Lohnabhängige hatte sie nichts zu verschenken und zu verschwenden. Auch keinen Gedanken an Weltsichten, an denen sie vielleicht auch festhielt, damit sie wenigstens irgendein Kapital hatte, das sicher war.
„Von dir erwarte ich sowieso nichts mehr“, lautete das Fazit meiner Mutter schon zu Zeiten, als ich lieber in den Bücherbus stieg, um in der Erwachsenenabteilung Thomas Manns „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ auszuleihen, anstatt mit meiner Mutter die Prospekte vom Supermarkt nach Angeboten zu durchstöbern. Ich hatte keine Ahnung, wer Thomas Mann war. Aber das Wort „Hochstapler“ klang halt aufregend und erinnerte mich an die Sendung, von der meine Mutter keine Folge verpasste: „Aktenzeichen XY … ungelöst“.
Ich hatte keine Ahnung, wer Thomas Mann war. Aber das Wort „Hochstapler“ klang halt aufregend und erinnerte mich an die Sendung, von der meine Mutter keine Folge verpasste: „Aktenzeichen XY … ungelöst“.
Meine Mutter hatte nur ein paar Jahre auf einer Schule verbracht, war Textilreinigerin, Hausfrau, Putzfrau, Küchenhilfe in dem Kleinstadtkrankenhaus im Südhessischen, in dem sie mich geboren hatte. Ich hatte nichts dagegen, dass sie an SOS-Kinderdörfer spendete. Dass sie mir bis ich 14 war, nur 5 Mark Taschengeld im Monat gab. Aber, dass sie ich die von der Nachbarstochter abgelegten Winterjacken aus Kunstschaffell tragen musste und sie mir in den Spendenbriefumschlag für die Schule nur ein 50-Pfennig-Stück legte, fand ich unmöglich.
„Bei den anderen Kindern klimpert es nie im Briefumschlag.“ „Die sind ja auch reich.“ Was mir damals total peinlich war, wofür ich mich schämte und wofür ich meine Mutter hasste, kann ich heute als souveränen Klassenstandpunkt betrachten. Aber erzählen Sie mal Sechstklässlern was von Klassenstandpunkten.
„Du bist doch so schlau“
Meine Mutter hatte keine Ahnung, was Klasse bedeutete. Sie sprach von „den kleinen Leuten“, so wie sie auch von „den Ausländern“ sprach, obwohl sie selbst mit einem verheiratet war und eine ihrer Töchter, ich, eine Aufenthaltsgenehmigung brauchte.
„Was soll nur aus dir werden?“ Diese rhetorische Frage stellen Mütter und Väter klassenübergreifend. Auch meiner Schwester stellte meine Mutter diese Frage. Die aber hatte sich irgendwann entschieden, eine Ausbildung zur Hotelfachfrau zu machen. Mutter gefiel das. Wenn ich sie allerdings fragte, was denn ihrer Meinung nach aus mir werden solle, antwortete sie: „Das musst du doch wissen. Du bist doch sonst so schlau.“ Ihr einziger Vorschlag für meine Karriereplanung lautete: „Warum gehst du nicht ins Fernsehen. Zu ‚Wer wird Millionär?‘. Wozu bist du denn sonst so schlau?“
Wie wenig schlau ich wirklich war, wusste sie nicht. Ein Selbstversuch: Ich scheitere auf der Website der Sendung schon bei der 1.000-Euro-Frage. Zum Schlaumachen hielt man sich bei uns zu Hause vor allem einen Fernseher. Samstags wurde das Programm erweitert, meine jüngere Schwester und ich in den „Lottoladen“ geschickt, um die Bild-Zeitung zu kaufen und den Lottoschein mit Spiel 77 abzugeben.
Auf dem kleinen Bücherregal (Möbelhausware, Eiche rustikal) in unserem Wohnzimmer standen: ein Atlas, zwei Bände Konsalik, ein Simmel, Putzos „Der Pate“, Falladas „Kleiner Mann was nun“ und „Der eiserne Gustav“, „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ und „Nicht ohne meine Tochter“. Dann waren da noch einige Deutsch-Lehrbücher meines Vaters, ein Band kroatische Märchen und Émile Zolas „Germinal“, von dem bis heute niemand weiß, wie er überhaupt in unser Wohnzimmer kam. Ebenso unbekannt blieb bis heute dessen Inhalt, Arbeiterkämpfe in einem Bergwerk im 19. Jahrhundert.
Während die Bücher so wie die bunten Römergläser in der Vitrine vor allem als Deko fungierten, waren die Platten in den zwei Taschen aus Kunstleder mindestens so oft im Gebrauch wie der Videorecorder: Neben Beatles, Abba, jugoslawischen Chansons, Heintje, Karel Gott und Bruce Springsteen war es vor allem Miles Davis: „Porgy & Bess“, „Fahrstuhl zum Schafott“, „Sketches of Spain“.
„Zu Gast“ in Deutschland
Mein Vater verehrte Miles Davis, weil der, wie mein Vater sagte, „immer auf der Flucht“ war. Immer auf der Suche nach dem Neuen. Mein Vater war alles andere als ein Jazzkenner. Er war Baustellenarbeiter, Küchenmonteur und arbeitete für die US-Army in Hessen. Vielleicht verehrte mein Vater Miles Davis, weil er selbst als jugoslawischer Marinesoldat die neue Welt bereist hatte. Vielleicht weil er vor seiner Vergangenheit floh, in der die Nazis seine Eltern, Geschwister, Tanten und Onkel ermordet hatten, worüber er nie redete. Vielleicht wurde er deswegen zu einem großen Gesellschafter, der immer Leute um sich haben musste, immer die ganz großen Feste feiern musste, auf denen er der Unterhalter war. Nie blickte er zurück, immer nur nach vorne.
Aber auch mein Vater konnte mir nicht sagen, wo ich mich umschauen könnte, damit ich es einmal besser habe. Aber er erwartete von mir auch nicht, dass ich irgendeinen Job hatte, sondern dass ich auf Familienfesten nicht mein Lieblingsjackett vom Flohmarkt trug, sondern das grellgrüne Damenjackett mit den Schulterpolstern, das er mir gekauft hatte. Er erwartete, dass ich so schwimmen können sollte wie Esther Williams, dass ich sonntags in die Kirche ging, während er im Radio jugoslawischen Gastarbeiterfunk hörte. Und er erwartete, dass ich mich politisch nicht so vorlaut äußere, weil wir in diesem Land „zu Gast“ seien und uns nicht darüber beschweren dürften, wie wir hier behandelt werden. „Sonst schmeißen die mich hier raus, und ich werde arbeitslos.“
Mein Vater erwartete, dass ich so schwimmen können sollte wie Esther Williams, dass ich sonntags in die Kirche ging, während er im Radio jugoslawischen Gastarbeiterfunk hörte.
Anfang der 80er Jahre, Wirtschaftskrise, mein Vater wurde arbeitslos. Die große Mietwohnung mit der großzügigen amerikanischen Küche wurde zu teuer. Meine Mutter impfte mir und meiner Schwester ein, niemandem davon zu erzählen, dass unser Vater nun „schwarz arbeite“. Wir hatten beide keine Ahnung, was das überhaupt hieß, und stellten uns vor, dass er sehr dreckige, aber auch sehr geheimnisvolle Arbeit machen musste.
Als ich in der 7. Klasse ein Schülerpraktikum machen sollte, war das Geschrei dann groß. Meine Schulfreundinnen, deren Eltern Deutsch- und Kunstlehrer waren, gingen zu Verlagen und Siebdruckereien. Ich weiß bis heute nicht genau, was eine Siebdruckerei so macht, damals hätte ich gerne näher gewusst, was es mit der Schwarzarbeit auf sich hat. Aber mein Vater hatte sich schon beim Nachbarn unter uns informiert, der einen dubiosen, aber florierenden Metallhandel führte. Er kam mit der Information zurück, dass sich derzeit als Bauzeichner oder Zahntechniker gutes Geld verdienen lasse. Was ein Bauzeichner genau machte, fand ich nicht heraus, ein Internet gab es damals noch nicht, und außerdem hatte ich genug von den Baustellen, auf denen ich meinem Vater geholfen hatte, Küchen- und Werkzeugteile durch die Gegend zu tragen. Und an anderer Leute Zähne herumzufummeln, hatte ich auch keine Lust.
Stattdessen landete ich bei einem Optiker in Wiesbaden. Wie ich auf Optiker kam, weiß ich nicht, ich trug ja nicht einmal eine Brille. Auf der Suche nach einem Beruf hatte ich die Gelben Seiten durchgeblättert, und die Anzeige des Optikers hatte mir wohl gefallen.
Ich schmiss dann ein paar Wochen lang die Brillen von Heinz Schenk, von Schimanski und von Roncalli-Gründer Bernhard Paul in den Ultraschallreiniger. Danach war ich einen Schritt weiter: Optikerin würde ich nicht werden.
Meiner Mutter gefiel das nicht. Heinz Schenk und Schimanski fand sie ja gut. Was ihr auch gefallen hätte, wäre, wenn ich Gärtnerin, Tierpflegerin oder Supermarktkassiererin geworden wäre. Echte Berufe eben. Erwartet hat sie von mir nicht, dass ich mich in der Welt der anderen Leute umschaue. Und noch weniger, dass ich mir für diese andere Welt eine Aufenthaltsgenehmigung besorgte. Ich flüchtete aus ihrer Welt. Aus der Welt der Arbeiterklasse.
„Akrap droht Haftstrafe“
Ich ging auf Demonstrationen gegen die Abschaffung des Asylrechts und gründete eine linksradikale Spaßpartei. Eines morgens weckte mich mein Vater mit dem Lokalblatt in der Hand, auf dessen Titel in großen Lettern stand: „Akrap droht Haftstrafe“. Weil ich als Ausländerin bei den Stadtparlamentswahlen kandidierte, hatten lokale Politiker versucht, mir Angst einzujagen. Angst hatte nun aber vor allem mein Vater, weil nachts mehrfach jemand anrief und „Scheiß Ausländer! Euch sollte man vergasen!“ ins Telefon brüllte.
Ich bildete mir lange ein, dass ich zu den Linken und den Bürgerlichen ging, um etwas zu tun, damit meine Eltern es später mal besser haben würden. Und lange war ich der Meinung, dass nicht ich es war, die gegangen ist, sondern dass ich zu Hause unerwünscht war. „Dann geh doch, wenn es dir nicht passt“ ist noch so ein Gespenstersatz aus der unveröffentlichten Anthologie „Mutters Sätze“.
Ein Jahr vor dem Abi zog ich von zu Hause aus. Die Streitereien mit meiner Mutter waren zu heftig geworden, wir brachen den Kontakt ab. Da ich kein Geld hatte, ging ich auf einen besetzten Bauwagenplatz und putzte bei einem maoistischen Motorradhändler die Wohnung. Dann starb mein Vater, kurz bevor ich Abitur machte, und meine Mutter und ich näherten uns wieder an. Als sie hörte, dass ich putzen ging, blühte sie auf. Endlich ein Thema, über das sie mit mir reden konnte, ein Terrain, auf dem sie sich sicher fühlte, mir etwas erklären konnte. Auch sie hatte sich aus ärmlichen Verhältnissen in Mecklenburg-Vorpommern stammend, ihr ganzes Leben selbst finanzieren müssen. In ihren Augen war ich jetzt nicht mehr ein Sonderling, sondern mit ihr auf Augenhöhe oder besser auf Kniehöhe, die Fliesen schrubbend.
Als ich dann aber bei den Linken blieb und zu den Studenten ging, hatte sie erwartet, dass ich heroinabhängig werde und unter Brücken schlafe. Nicht erwartet hatte sie, dass sich mein Leben mehr oder weniger so abspielen würde wie jedes andere auch: in einer Wohnung mit Küche und Bad, an einem bezahlten Arbeitsplatz, auf Betriebsfeiern und an Urlaubsorten, die von Chartermaschinen angeflogen werden.
„Ja, ja, Madame geht zur Universität. Bildest dir wohl was drauf ein“, sagte sie mit Vorliebe dann zu mir, wenn ich versuchte, ihre Meinung über Linke – „Die reden auch viel, wenn der Tag lang ist, anstatt zu arbeiten“ – auszureden. Auf der Universität begegnete ich linken Studenten, die sich darüber empörten, dass der Studentenrabatt für den öffentlichen Nahverkehr gestrichen wurde. Wenn ich denen sagte, dass der Studentenrabatt kein Menschenrecht sei und meine putzende Mutter auch den vollen Preis für das Busticket zahlen musste, guckten die mich nur komisch an.
Als ich meinen ersten Job als Redakteurin bei einer großen Boulevardzeitung hatte, wusste ich: Meinen linken Freunden würde das überhaupt nicht gefallen. Aber ich hoffte, wenigstens meiner Mutter ein Mal imponieren zu können: Ich machte Geschichten über Pferde und Fußballer und saß bei der Schwimmerin Britta Steffen auf dem Schoß. Glücklicherweise saß Britta Steffen dann auch bald bei „Wetten, das..?“ im Fernsehen – und als ich zu Weihnachten mit ein paar Ausgaben der BZ nach Hause kam, feierten wir zum ersten Mal seit dem Tod meines Vaters wieder ein fröhliches Weihnachtsfest.
Im Überschwang hatte ich Karten für etwas besorgt, von dem ich dachte, ich würde meiner Mutter damit eine Riesenfreude machen: „Schwanensee on Ice“, dargeboten vom russischen Staatsballett in der Alten Oper in Frankfurt.
Die drei Stunden auf den billigsten Plätzen waren die Hölle. Ich strengte mich an, alles toll zu finden, sagte bei jeder artistischen Einlage „Wow“ und „Guck mal“. Meine Mutter aber war ultragelangweilt und ärgerte sich, dass sie wegen des „Gehampels“ die TV-Aufzeichnung des Konzerts von Semino Rossi verpasst hatte, ihrem Lieblingsschlagersänger, der ein paar Wochen vorher in derselben Oper aufgetreten war.
Didier Eribons Buch las ich im Sommer am Strand des kroatischen Dorfs, in dem mein Vater sich seinen kleinen Traum vom Haus am Meer selbst zusammengezimmert hatte. Meine Schwester war da. Wir stritten uns. Auch, weil die Lektüre Eribons die Erinnerungen an unsere gemeinsame Vergangenheit hochspülte. Ich warf ihr „Ressentiments“ vor. „Du und deine Ressentiments. Hauptsache, du weißt, was das ist“, antwortete sie.
Linke arrogante Kinder
Die Literaturkritikerin Elke Heidenreich befand kürzlich, Didier Eribon hätte seinen Eltern halt mal früher erklären sollen, was er so mache, dann wäre es auch nicht zu dem großen Bruch mit ihnen gekommen. Sie habe ihrer proletarischen Mutter schließlich auch immer erklärt, was sie so mache. Es sei kein Wunder, dass die Arbeiter rechts werden, wenn ihre linken Kinder so arrogant seien wie Eribon.
Arrogant? Jemandem, der versucht zu verstehen, was er lange verdrängt hat, Arroganz vorzuwerfen, ist nicht gerade das Gegenteil von arrogant. Zudem ist Heidenreich einer Meinung mit Eribon: Die Linken sind schuld daran, dass die Arbeiter heute rechts wählen. Didier Eribons These, die hierzulande vor allem von bürgerlicher Seite begeistert rezipiert wurde, teile ich nicht gänzlich. Schon allein deswegen, weil mittlerweile völlig unklar ist, was und wo „links“ überhaupt sein soll. Und, weil Deutschland nicht Frankreich ist.
Wenn ich meine Arbeitereltern fragte, warum sie eigentlich nie kommunistisch wählten und sie dann von Verbrechern sprachen, ist das auch ein Ergebnis deutscher Politik, die kriminalisierte, wer die Sache der Arbeiter radikal vertrat: Die Kommunistische Partei wurde 1933 von den Nazis und 1956 von der CDU verboten. Links war die deutsche Arbeiterklasse in der BRD vor allem in der Vorstellung bürgerlicher Linker. Aber nicht in der Realität.
Meinen eigenen Arbeitereltern haben nie links, sondern konservativ gewählt. Und jetzt sitze ich da und frage mich, ob ich mich fragen muss, welchen Teil ich dazu beigetragen habe, dass meine Mutter nie links wurde. Das ist absurd.
Es wird viel über den Arbeiter geredet. Aber den gibt es nun mal nicht. Auch für den Arbeiter gilt wie für jeden Bürger das Recht auf Individualität. Ich bin mir sicher, auch im Erinnerungsregal meiner Mutter gibt es einen Band „Tochters Sätze“, den sie immer wieder liest. Ich weiß, dass sie sich fragt, welchen Anteil sie daran hat, dass ich zu den anderen gegangen bin.
Wenn wir darüber wirklich reden könnten, es könnte eine schöne Weihnachtsgeschichte werden. Dazu aber müssten wir auch darüber reden, was sie bei der Bundestagswahl wählt. Und das hab ich mich bisher noch nicht getraut.
Lolas Weihnachtsmarkt u.a. mit “Unvermittelbar”
16. December 2016Lolas Weihnachtsmarkt
Kunstverein Familie Montez
17. / 18.12. 12.00–20.00 Uhr
VERANSTALTUNGSORT
Kunstverein Familie Montez
Honsellstraße 7
60314 Frankfurt – Ostend
Informativer WELTSPIEGEL-Bericht über SOZIALABBAU in Grossbritannien
4. December 2016BITTERE ARMUT WEGEN BÜROKRATIE
Es ist der Stoff für einen Film. In Großbritannien sorgt das Werk des Regisseurs Ken Loach ,,I Daniel Blake‘‘ für mächtig Wirbel und Aufregung: Eine Story über Briten, die täglich durch das soziale Netz rutschen, da dieses kafkaeske Züge hat, sozial Schwache nicht an die Hand nimmt, sondern eher fallen lässt.
Die Realität in England abseits des Films ist teils sogar noch schlimmer, sagen viele, ,,Real Daniel Blakes‘‘ gebe es an vielen Orten im Königreich. Und nach dem Brexit-Votum der Briten wird sich die Situation für die Betroffenen wohl nicht bessern, der Abstieg in die Armut droht. Charlotte Hughes will das nicht hinnehmen, jede Woche steht sie vor dem Arbeitsamt, informiert Jobsuchende über ihre Rechte, wie man sich gegen Sozialkürzungen wehren kann.
Salon Fluchtentier No.3 “Daher, Scheffler, Scho”
22. November 2016Salon Fluchtentier geht in die dritte Runde! Geladen sind für November die Berliner Lyrikerinnen Lydia Daher, Rike Scheffler und Sabine Scho. Ihre Dichtungen verbindet miteinander, dass sie über die eigene Sprache hinausgehen und andere Kunstformen berühren. Beim Salon Fluchtentier no.3 stellen sie Auszüge aus dem Spektrum ihres Schaffens vor.
Lydia Daher ist Dichterin und Songwriterin, ihre Texte leuchten die „Dimensionen der Melancholie“ (Südeutsche Zeitung) aus – zuletzt veröffentlichte sie das Album „Algier“, das Foto-Text-Buch „Frisches Trauma“ (beide 2015) sowie gemeinsam mit dem amerikanischen Comic-Künstler Warren Craghead III die Graphic Poetry „Kleine Satelliten“. Beim Salon Fluchtentier wird sie aus aus ihrer Lyrik lesen.
An der Schnittstelle zwischen Musik und Dichtung arbeitet ebenfalls Rike Scheffler: Mit Loopstation bringt sie ihre Lyrik in eine neue, klingende Form. Scheffler baut szenisch-musikalische Sprach/Klang/Rauminterventionen, in denen Wahrnehmungs- und Erlebnisweisen hinterfragt und geöffnet werden. Sie kollaboriert häufig und gern mit Künstler*innen verschiedenster Genres wie dem Theater, Jazz, Pop, Film, der Oper und der Installations- und Performancekunst. Ihr Debütband „der rest ist resonanz“ erschien 2014 bei kookbooks.
Sabine Scho veröffentlichte zuletzt „Tiere in Architektur“ (kookbooks, 2013) – ein Band, in welchem Fotografien unterschiedliche Textformen flankieren – und das Magazin „Origin of Senses“ (2016), worin Schos Texte mit Arbeiten des Illustrators Andreas Töpfer in Dialog treten. Beim Salon Fluchtentier wird sie neben ihren lyrischen, auch essayistische Texte vorstellen.
Gefreut werden darf sich auf einen reichen Lyrikabend, jen- und diesseits der berühmt-berüchtigten Wasserglaslesung!
Eintritt: 7 Euro (ermäßigt: 4 Euro)
Reservierungen unter: 069/49084828
Nähere Infos: www.romanfabrik.de/programm/detailansicht/calendar/2016/11/22/
event/tx_cal_phpicalendar/salon-fluchtentier-no3
U.a. Moderation von mir.