Der Vorzeigekapitalist J. D. Vance schreibt einen Bestseller über die verarmten weißen Landarbeiter in den Appalachen – und bringt die Frustrationen vieler Amerikaner in seltener Deutlichkeit auf den Punkt.
Vor zwei Jahren hätte wohl kaum jemand einen Blick in dieses Buch geworfen. Heute aber, nach dem Schock der amerikanischen Präsidentschaftswahl, schießt es in den Bestsellerlisten nach oben: “Hillbilly Elegie“ ist der wohl gelungenste Versuch, die Ursachen des radikalen Politikwechsels in Washington zu erklären.
Die zentrale Aussage lässt sich schnell zusammenfassen: Zwei Autostunden von der US-Hauptstadt entfernt beginnt eine Krisenregion, über die lange Zeit nur gespottet wurde. Mit dem “Fly-over-Country“ wollte sich kaum jemand beschäftigen, der an der Ost- oder Westküste oder an einem der vielen aufstrebenden Hightech-Zentren in den USA lebt. Abfällig bezeichnen die Städter die Menschen jenseits der Metropolen als “Rednecks“ oder eben “Hillbillys“, Rotnacken oder Hinterwäldler, zumeist weiße Landarbeiter, die wenig mit Wissensökonomie, Genderpolitik und Umweltbewusstsein anfangen können, dafür umso mehr mit Familienloyalität, dem Gewehr im Schrank und einem kühlen Bier am Abend.
J. D. Vance kennt beide Welten in Amerika: Der 32-Jährige ist Absolvent der Eliteuniversität in Yale und arbeitet als Risikokapitalanleger in Kalifornien. Finanziell gesehen zählt er zu den Erfolgreichsten seiner Generation. Zu den Besonderheiten des Juristen zählt seine Herkunft. Seine Familie lässt sich kaum vergleichen mit den Eltern und Großeltern seiner Kollegen. Das spürt der Aufsteiger auch nach Feierabend: Wenn sich seine Bekannten über die Vorzüge unterschiedlicher Weinsorten unterhalten, steht der Junge vom Lande meistens schweigend daneben und schenkt sich ein Budweiser-Bier ein.
Eine bittere Bestandsaufnahme
Vance ist in Middletown im Bundesstaat Ohio aufgewachsen, und seine eigentlichen Wurzeln liegen in den Appalachen Kentuckys, dort, wo es einst rau und herzhaft zuging und die Menschen heute in Apathie und Drogensucht versinken. Der junge Mann erzählt die Geschichte seiner eigenen Verwandtschaft mit irisch-schottischem Hintergrund und wirft einen schonungslosen Blick auf die vergessenen Staaten Amerikas.
Es ist eine bittere, zum Teil schwer erträgliche Bestandsaufnahme über das Leben in Armut – und zugleich eine Liebeserklärung an seine alte Heimat. Ein Bestseller, der den Nerv der Amerikaner zu treffen scheint. Oscarpreisträger Ron Howard beabsichtigt gar, “Hillbilly Elegie“ zu verfilmen.
Eine zentrale Rolle in Vance’ Kindheit spielt seine Großmutter, die aufmerksam darauf achtete, dass der Junge nicht auf die schiefe Bahn geriet – wenngleich sie selbst als Zwölfjährige mit dem Gewehr ihres Vaters auf Viehdiebe schoss und später ihren Ehemann mit Benzin übergoss und anzündete. Dass die ältere Dame nicht wegen Mordes im Gefängnis landete, verdankte sie offenbar nur dem beherzten Eingreifen ihrer Tochter, die ihren Vater rettete – und später den Drogen verfiel.
“Hillbilly Elegie“ ist eine Familienerzählung mit zahllosen Tiefpunkten und nur wenigen Hoffnungsschimmern. Über weite Strecken so trostlos, dass es nur schwer verständlich ist, wie es ein Familienspross zuerst nach Yale und später ins Silicon Valley schaffen konnte.
Der Name Donald Trump findet sich nicht. Wer aber genau in die Familiengeschichte hineinhorcht, ahnt, warum der heutige Präsident so spricht, wie er spricht. Vor allem während seines wüsten Wahlkampfes ahmte der schillernde Geschäftsmann genau die Tonlage nach, die unter den Hillbillys der Appalachen üblich ist. Das vermeintliche Rätsel um den Aufstieg des New Yorker Nicht-Politikers löst sich in “Hillbilly Elegie“ auf eindrucksvolle Weise auf.
Während aber der Immobilienmogul den Verarmten das Gefühl vermittelt, sie seien allesamt Opfer der Globalisierung, liest sich Vance’ Arbeit nicht wie eine Verteidigungsschrift. Die Verödung weiter Landstriche sei keineswegs nur die Folge eines dramatischen Strukturwandels und mangelhafter Wohlfahrt.
Chancen bleiben oft ungenutzt
Sehr genau beobachtet er auch die unzähligen eigenen Fehler der Betroffenen. In aller Ausführlichkeit kommen das verloren gegangene Arbeitsethos zur Sprache und die verbreitete Eigenschaft, das eigene Versagen anderen in die Schuhe zu schieben. Selbst dort, wo sich Chancen ergeben, bleiben sie oft ungenutzt. Ganz zu schweigen von der Drogensucht, die in einigen ländlichen Gegenden einer Epidemie gleicht.
Vance beschreibt eines der Grundprobleme des heutigen Amerikas: Die einfachen, aber relativ gut bezahlten Jobs fallen weg. Erst schlossen die Kohlereviere in den Appalachen, später die Stahlwerke in Ohio. Viele Arbeiter versuchten den Jobs hinterherzuziehen und begriffen zu spät, dass sie zu wenig in ihre eigene Ausbildung investiert hatten. Der gut qualifizierte Facharbeiter und die Fabrik, in der ebenso hochwertige wie konkurrenzfähige Produkte hergestellt werden, sind in der größten Volkswirtschaft der Welt zur Mangelware geworden.
Ein Scheinwerfer auf die Übersehenen
Der Rechtswissenschaftler und Vorzeigekapitalist Vance, der sich unerwartet in der Rolle eines Bestsellerautors wiederfindet, liefert keine Analyse ab, die die gesamte Misere Amerikas beschreibt. Die verwahrlosten Landarbeiter in Kentucky und West Virginia sind keineswegs die einzige Problemgruppe. Wie mit einem Scheinwerfer leuchtet Vance aber genau die Ecken aus, über die sonst hinweggesehen wird.
An dieser Stelle könnte sich der junge Autor zufrieden zurücklehnen, den Blick aus seinem geräumigen Büro auf den Pazifik genießen und dabei zusehen, wie sich die Tantiemen auf seinem Konto sammeln. Doch Vance will seinem Lebensweg eine weitere überraschende Wendung geben. Den jungen Mann zieht es zurück in seine alte Heimat: “Innerlich war ich nie ganz weg“, sagt der Autor. Aber jetzt sei es an der Zeit, seinen Leuten etwas zurückzugeben.
Als Risikokapitalgeber will er demnächst hoffnungsvolle Start-ups in Ohio auskundschaften und unterstützen. Außerdem will er im Gespräch mit den Einheimischen erfahren, was sich in den Jahren seiner Abwesenheit verändert hat. In örtlichen Zeitungen und Netzwerken gehen die Spekulationen über Vance’ Rückkehr allerdings weiter: In seiner alten Heimatstadt Middletown kursiert bereits das Gerücht, Vance wolle in absehbarer Zeit für ein politisches Amt kandidieren – vielleicht gar für den Gouverneursposten? Dazu hat Vance schnell eine Antwort parat: “Sag niemals nie!“
J. D. Vance: “Hillbilly Elegie“. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gregor Hens. Ullstein, 304 Seiten, 22 Euro (gebunden).
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