Die Vergänglichkeit des Vergangenen
„vergeht / sich an vergangenem / zu schnell“ steht in Julia Mantels elegant-energetischer Handschrift auf dem Rücken ihres just im Fixpoetry Verlag erschienenen Gedichtbandes „dreh mich nicht um“. Die Verse stammen aus dem letzten Gedicht des Bandes, und der scheinbare Widerspruch zum Titel gibt die Richtung dieser einerseits sehr sanften, andererseits auch sehr direkten Poeme vor.
Es gibt zu viele Dichter zur Zeit. Definitiv: viel zu viele. Man kann sie gar nicht alle lesen, es ist schlicht unmöglich. Man kann sich höchstens an die eigene sprichwörtliche Nase fassen. Fast täglich gibt es Neuerscheinungen. Ich betone das, weil ich mich mit Julia Mantel bisher noch gar nicht befasst hatte. Sicher ist sie mir in der ein oder anderen Anthologie schon mal begegnet, aber es ist einfach zuviel, um noch den Überblick zu behalten und folglich jeden einzelnen im Blick. Zu sehr gleicht sich auch die Masse der modernen (jungen) deutschen Lyrik, zu wenig stechen einzelne Dichter heraus, und Aufmerksamkeit erregt sowieso keiner mehr (selbst innerhalb der Szene nicht, seien wir so ehrlich). Es gibt Namen, die man kennt, weil sie seit Jahren präsent sind, und es gibt solche, die man nicht mehr bemerkt, aus Unachtsamkeit vielleicht, oder weil es eben einfach zu viel ist mittlerweile.
Und leider, leider erhält man so unendlich viele Rezensionsexemplare, die einen schon nach wenigen Seiten zu Tode langweilen, und wenn man gerade nicht in der Stimmung ist, einen Verriss zu schreiben, geht das Buch den Weg alles Irdischen. Ebay lohnt bei Lyrik nicht, leider.
Umso erfreulicher ist es, wenn man ganz unvoreingenommen in einem ruhigen Moment ein Buch wie dieses aufschlägt – Julia Mantels „dreh mich nicht um“ -, zu lesen beginnt und weiterliest, weil man sich nicht langweilt, im Gegenteil. Das sind ganz, ganz tolle Gedichte. Emotionale Gedichte, nostalgische Gedichte, sanftweiche und zugleich radikal direkte Gedichte, die Schwingungen weit über den eigentlichen Text hinaus auslösen, so wie dieses: „wahrscheinlich / keine ahnung wo / du jetzt liegen / geblieben bist / gemütlich oder / auf der strecke / zuckst du kurz / mit den lidern, / nur kurz.“
Die Verse bewegen sich auf einer Art lebensretrospektiver Zeitebene, mit allem, was diese beinhaltet und ansammelt im Laufe der Jahre. Kleine Momente, die selten eindeutig sind, die oft Fragezeichen hinterlassen, gerade weil sie so maßgeblich dafür verantwortlich sind, was das Jetzt ausmacht. Wer wir sind erzählt nie die Gegenwart, sondern immer die Ansammlung an Vergangenheiten. Dennoch: Dreh mich nicht um. Denn gleich ist das Jetzt schon nichts weiter als ein zusätzliches Element des allumfassenden Gestern. Daraus entsteht ein Weg, der kein Ziel kennt: „wurzeln geschlagen ringe / aus jahren immer / wieder dieselben / straßen dieselben gesichter / haben falten bekommen wen / kennt man schon richtig im / vorübergehen sesshaft / geworden“.
Julia Mantel hat die wunderbare Fähigkeit, ihre Verse so zu arrangieren, dass jeder Zeilenbruch eine ganz gezielte Wirkung entfaltet, und auf den ersten Blick scheint es, man könnte ihre Gedichte dann so lesen oder auch so. Aber dem ist nicht so. Man kann sie so, so, so und auch so und eventuell sogar so lesen. Oder anders. Da bewegt sich sehr viel unter der Oberfläche, und das ohne jemals konstruiert zu wirken, die Worte fließen dahin, die Wörter mit ihnen. Die Bedeutungen erschaffen sich selbst, so wie hier: „dein arm bricht ab / unter meiner last / die ich dir nicht abnehmen wollte“. Volltreffer. Jörg Sundermeier schließt sein Vorwort zum Buch mit zwei Versen, die lakonischer nicht sein könnten, aber gerade deshalb ein Gefühl / Ungefühl sehr exakt portraitieren: „wenn es weiter nichts ist / das uns fehlt“.
Ja, es gibt ganz eindeutig zu viele Lyriker in Deutschland. Aber es lohnt sich, weiterzulesen, um solche Entdeckungen zu machen wie die wunderbaren Gedichte von Julia Mantel.
Gerrit Wustmann |
Julia Mantel: dreh mich nicht um. Gedichte (Fixpoetry Verlag, 2011)
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