Zeichen der Zeit: Gedichte von Julia Mantel
Was ist gegensätzlich zu Blümchenlyrik?
Was, wenn Wortspiel keine Spielerei ist?
Was ist Postmodernismus?
Was kommt 100 Jahre nach der Neuen Sachlichkeit?
Was folgt auf Dadaismus?
Julia Mantels Lyrikband ist die variantenreiche Antwort auf sämtliche eingangs gestellten Fragen. Konkret:
Gleich im ersten Gedicht konfrontiert Julia Mantel ihre Leserschaft mit einer Salve von Versen, von denen jeder alleinstehend aussagekräftig ist und zugleich Fragen aufwirft, deren Antworten naheliegen, jedoch im Gesamtkontext des Gedichtes weiter gedacht werden müssen:
„wenn du an dich glauben dürftest, ohne je daran glauben zu müssen.“
(…)
„wenn die schöpfung nicht dauererschöpft wäre.“
(…)
„wenn durch die adern kein hadern mehr flösse.“
Jeder Mensch hat ja ein Anrecht auf etwas Glück. „Wenn Du eigentlich denkst, die Karibik steht Dir zu“ ist zwar ein sperriger Buchtitel, aber ein zutreffender. So wie man beim Lesen des Titels inne halten muss, um ihn zu erfassen, danach um ihn aus eigener Überlegung heraus gedanklich zu vervollständigen, ebenso ergeht es den Leser*innen bei den Gedichten dieses Bandes. Gesellschaftlich etablierte Grundannahmen, wie auch Errungenschaften der Moderne, werden in Frage gestellt, Folgeerscheinungen veranschaulicht. Der gelegentliche Sarkasmus ist die angenehme Komponente:
„wenn an der angel nicht immer soviel mangel hinge.“
Die Lyrikerin thematisiert Alltägliches aus Deutschland: In entblößendem Umgangston wird ach so Empörendes erzählt, ebenso wie knapp formulierte Schieflagen der leisen Art vermittelt. Mal wird südhessisch gebabbelt („drunter mache mers nett!„), mal werden Nomen in ihrer puren Eindeutigkeit in Form gesetzt; lesbar wie ein Stakkato:
anker ranken
ich hielt um
seine hand
an
und starrte
dann die wand
an
eine freundin brachte
daran strand
an.
Zwischenmenschliche, wie auch soziale Trostlosigkeit – die großen Themen des Buches – kann man wohl kaum knapper und damit pointierter in Verse fassen. Diese illusionslose Nüchternheit fand schon mal Anfang der zwanziger Jahre Anwendung und Entwicklung. Damals schrieb Erich Kästner „Fabian“. Nun wurde der Roman verfilmt. Die Zeichen der Zeit sind durchaus vergleichbar.
Mantel wählt bewusst banal klingende Formulierungen wenn sie gefestigte Ideale anprangert:
„dann hängste mit dem (fast-dumm-wie-)strohhut in der hängematte“ (…)
„und plötzlich
fällt dir dann
auch wieder
der barschel
in der badewanne ein
weil du hängst ja
auch irgendwie rum
(harry, hol schon mal den wagen)“
Banal sind solche Assoziationen in mehrerlei Hinsicht sicherlich nicht. Die vermeintlich zufallsgesteuerte Aneinanderreihung von Anspielungen ergibt in ihrer Gesamtheit kein stimmiges Bild; sehr wohl aber ein gut erkennbares Bild. Die Verzerrungen und überraschenden Wendungen stehen dem Vertrauten entgegen, rütteln daran, entlarven. Provokationen sind per se unangenehm, werden aber Dank Mantels Kreativität zur Denkaufgabe und durchaus auch zum Lesevergnügen.
Julia Mantel wurde Mitte der Siebziger in Frankfurt a.M. geboren, studierte Angewandte Kulturwissenschaften in Lüneburg, machte der Generation Praktika alle Ehre, wechselte ins Landleben und wieder zurück zum Citylife, changiert zwischen Strickkunst und Lyrik, engagiert sich im Hessischen Schriftstellerverband wie auch im losen Literatursalon Fluchtentier. Nun hat sie den vierten Gedichtband vorgelegt, passender Weise wiederholt bei Edition Faust. Deren Trägerin, die Faust Kultur Stiftung, betreibt neben ihrer editorischer Tätigkeit auch das Onlineportal faustkultur.de, organisiert die jährliche Veranstaltungsreihe Textland und fördert tatkräftig zahlreiche Kulturprojekte.
Fehmi Baumbach griff bei ihren Text-Bild-Collagen auf Lyrik von Julia Mantel zurück und schuf in bester Dadaismus-Manier Kunstwerke, die im Herbst in Berlin ausgestellt worden sind. Julia Mantels Gedichte: lesens- und sehenswert. Es lohnt sich genauer hinzuschauen.
Rezensent: Ortwin Bonfert
Julia Mantel: Wenn du eigentlich denkst, die Karibik steht dir zu
Gedichte
Entrèe: Paul-Henri Campbell
Aprèe: Alexandru Bulucz
Edition Faust, Frankfurt a.M. 2021
84 S., 18,- Euro.
ISBN: 978-3-9454-87-6
Hinweis: Das Rezensionsexemplar wurde auf Anfrage dankbarer Weise unentgeltlich zur Verfügung gestellt.