Ich war mit einer Frau zusammen, die von Hartz IV lebte - jetzt weiß ich, was es bedeutet, in Deutschland arm zu sein
Dass Beziehungen nicht wie in Disney-Filmen sind, wusste ich zu Beginn meiner Studienzeit schon - dass die Unterschiede zur Realität aber so groß sind, dass man Disney eigentlich wegen grober Fahrlässigkeit verklagen sollte, musste ich erst noch lernen. Aber von vorn.
Ich war so jung und dumm, wie man es nur sein kann, als ich mein Studium begann. Als der Erste aus meiner Familie, der es an die Uni geschafft hat, hatte ich ein riesig aufgeblähtes Ego.
Ich wollte es den ganzen “Bonzenkindern” an der Uni zeigen. Sie sollten lernen, wie “die harte Realität” da draußen ist.
Stattdessen war ich es, der etwas Wichtiges lernen musste. Und zwar, dass ich in einer geschönten Filterblase aufgewachsen war. Und diese Erfahrung war ziemlich schmerzhaft. Sie begann an dem Tag, an dem meine Freundin in mein Leben trat - mittlerweile ist sie meine Ex.
Seit ihrem 18. Lebensjahr lebte sie abwechselnd von Bafög, Hartz IV und Kellner-Jobs
Ich lernte sie über eine Studiengruppe an der Uni kennen. Sofort ist mir aufgefallen, wie hübsch sie war. Doch von ihr überzeugt hat mich letztendlich etwas ganz Anderes.
Noch nie hatte ich jemanden getroffen, der so tough war, so leidenschaftlich in allen Dingen. Sie hatte meist so gut wie kein Geld und immer Stress mit dem Bafög-Amt. Von ihren Eltern bekam sie keine Unterstützung. Also suchte sie sich einen Job als Kellnerin - und geriet an einen Chef, der ununterbrochen anzügliche Witze machte. Zu guter letzt hatte sie auch noch im Studium zu kämpfen.
Auch wenn sie mit ihrer Situation nicht glücklich war, hat sie all das immer sehr gut gemeistert. Selbst als das Bafög-Amt Probleme machte und sie zeitweise nicht mal mehr Geld für Essen hatte, kam sie irgendwie klar.
Diese Probleme waren nichts Neues für sie. Ihre Eltern hatten nie Geld und haben sich mit Gelegenheitsjobs wie Putzen, Pakete ausliefern und Regale einräumen über Wasser gehalten. Irgendwann rutschten sie in Hartz IV ab.
Sie wohnte seit ihrem 18. Lebensjahr allein, finanzierte sich während der Schule abwechselnd durch Bafög, Hartz IV und Kellner-Jobs.
Trotzdem bekam sie ein Abi-Zeugnis, von dem ich nur hätte träumen können. Sie sprach drei Sprachen fließend und zwei weitere gut genug, um in den jeweiligen Ländern klar zu kommen.
Ihr Start ins Leben war weit schwerer als meiner, doch als wir uns kennenlernten, hatte sie schon weit mehr daraus gemacht.
Das imponierte mir. Um nicht zu sagen: Ich war total verknallt. So sehr wie noch nie zuvor.
Neben ihr kam ich mir klein und unbedeutend vor. Nicht mehr wie das kluge Arbeiterkind, das es den Bonzen zeigen würde. Ich fühlte mich bloß noch wie ein Kind.
Ihr Leben war ein stetiger Kampf, den sie nur verlieren konnte
Irgendwie hab ich es geschafft, dass auch sie mich gut fand. Und aus “betrunken auf Feiern rummachen” wurde eine richtige Beziehung. Weil ich so verliebt war und es uns beiden finanziell half, zogen wir zusammen.
Jetzt - wo eigentlich der Teil der Geschichte kommen müsste, wie sie trotz ihrer Vergangenheit erfolgreich wurde und wie toll es mit ihr und uns weiter ging, muss ich kurz innehalten.
Denn ich hab das damals wirklich geglaubt. Ich dachte: Sie ist so stark, der ganze Ballast kann ihr nichts anhaben, sie lässt das alles gar nicht an sich ran. Ich lag falsch.
Wer ein Leben lang kämpft, der fängt sich Narben ein. Wunden, die nie ganz verheilen und die plötzlich wieder aufgehen. Ich war zu jung und zu unerfahren, um damit richtig umzugehen.
In ihrem Leben gab es feste Regeln - eine Abweichung bedeutete Angst und Wut
Mit jemandem zusammenzuleben, der es gewohnt war, mit einem Minimum an Geld auszukommen, ist anders.
Da gab es die kleinen Dinge. Sie hat keine Getränke im Supermarkt gekauft, Wasser aus der Leitung reichte völlig. Penibel achtete sie darauf, dass sofort das Licht ausgeschaltet wurde, wenn man einen Raum verließ. Sie wusste genau, was das Minimum an Waschmittel war, das man benötigt, um die Kleidung sauber zu bekommen.
Das mag sich nur nach Marotten anhören. Doch es hatte etwas Zwanghaftes. Und wurde problematisch, wenn man sich nicht an ihre Regeln hielt.
In unserem Haushalt wurde lautstark darüber gestritten, wie lang das Licht an sein darf, dass die Cola auf dem Heimweg unnötig und das Waschmittel schon wieder leer war.
Für sie waren das keine lustigen Spartipps - für sie waren das lebenswichtige Regeln. Die sie sogar so tief verinnerlicht hatte, dass selbst wenn wir finanziell ganz gut dastanden, eine Abweichung von diesen Regeln Angst und Wut in ihr hervorrief.
Und da ging es nur um Kleinigkeiten. Das größte Problem war ein anderes: Das Essen.
In ihrer Familie war Essen immer ein Mittel, den Stress, den die prekäre Lebenssituation mit sich brachte, zu bekämpfen. Viel Fast-Food, viele Chips - typisches Wohlfühl-Stressessen.
Als wir zusammen wohnten, hat sie zu Beginn eigentlich nur Fischstäbchen gegessen. Wenn es stressig wurde, kamen noch Chips hinzu.
Es war nicht so, dass sie nicht wusste, dass es auch anders geht - aber sie konnte einfach nicht anders.
Sie fühlte sich danach immer schlecht, weil sie ja eigentlich nicht so wie ihre Familie leben wollte. Die starke, intelligente, erfolgreiche Frau, die sie war, kam nicht damit klar, hier so eine “Schwäche” zu zeigen.
Das Ergebnis war, dass sie sich nach dem Essen oft übergab. Über Umwege hat die Armut ihr also eine gefährliche Essstörung beschert.
Das Gefühl, immer die Beste sein zu müssen, um ja nicht so wie die Eltern zu enden, hat sie auch tief beeinflusst. Sie entwickelte einen großen Perfektionismus und hat sich selbst nichts verzeihen können.
Darunter litt sie sehr. Die Folge waren Depressionen, Wutanfälle und selbstverletzendes Verhalten. Offen zeigte sie nie etwas, doch als ihr Partner kannte ich die Narben an ihren Beinen, wo sie sich selbst geschnitten hatte.
Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Wann ich mit ihr weinen und wann ich hart bleiben musste. Womit ich ihr hätte helfen können, womit ich ihr geschadet hätte.
Wir haben uns oft gestritten. Damals dachte ich, es gehe wirklich darum, ob ich das Licht angelassen hatte. Jetzt weiß ich, dass sie einfach nur jemanden gebraucht hatte, der sie ernst nimmt und versteht. Das konnte ich damals jedoch nicht. Zu anders war meine Biografie, als dass ich verstehen hätte können, was sie durchgemacht hat.
Irgendwann trennten wir uns. Das hatte viele Gründe - wir waren zu jung zusammengekommen, ich hatte noch viel zu sehr mit mir selbst zu tun. Und auch wenn wir uns immer noch mögen, mussten wir uns damals eingestehen, dass wir nicht das sind, was der andere braucht.
Kein Märchen und kein Happy End
Aufhalten konnte sie das alles trotzdem nicht. Sie machte auch an der Uni einen Abschluss, von dem die meisten nur träumen können, lernte noch zwei weitere Sprachen fließend und ging auch beruflich ihren eigenen Weg.
Das klingt nach einem Happy End. Wir haben noch immer viel Kontakt und ich weiß: Sie ist nicht glücklich.
Ihre Kindheit und ihre Armut lassen sie nicht los, nur weil sie nicht mehr arm ist. Sie kämpft noch weiter, aber irgendwann - so sagt sie - ist auch ihre Kraft aufgebraucht.
Ich bin dankbar für die Zeit, die wir zusammen verbracht haben. Ich habe viel gelernt, ich bin weniger verschwenderisch und viel dankbarer für das, was ich habe. Ich verstehe auch viel besser, was es heißt, arm zu sein.
Lebenslange Armut hat weit weniger mit Geld zu tun, als man glaubt. Armut ist etwas, was man sein Leben lang in sich trägt. Es ist, wie wenn man in einen anderen Kulturkreis zieht. Man lernt die Regeln der anderen, kommt vielleicht sehr gut damit klar, doch da bleibt etwas, was die anderen nicht verstehen können.
Ich habe auch gelernt, dass die Menschen, die Arme und Hartz-IV-Empfänger pauschal für faul und dumm halten, einfach keine Ahnung haben.
Und vor allem habe ich gelernt, dass Armut uns allen schadet. Eine Frau wie meine Ex-Freundin ist stark und intelligent und hat der Welt viel zu bieten. Wenn sie Unterstützung bekommen hätte, wäre sie jetzt vielleicht jemand, über den man in der Zeitung lesen würde.
Aber weil sie in einer armen Familie aufwuchs, war ihr Weg steinig und sie wird ihr Leben lang kämpfen müssen.
Dadurch, dass wir in Deutschland solche Armut zulassen, zerstören wir nicht nur das Glück einzelner Individuen - es bleibt auch so viel Potential auf der Strecke, von dem wir alle profitieren könnten.
Da Armut noch immer mit vielen Vorurteilen verbunden ist, hat der Autor diesen Text unter Pseudonym geschrieben, um sich und seine ehemalige Freundin zu schützen.
So sieht Armut in Deutschland aus
► 4,4 Millionen Menschen in Deutschland beziehen Hartz IV.
► Fast 2 Millionen Kinder leben in Familien, die auf Hartz IV angewiesen sind, sind.
► 12,9 Millionen Menschen in Deutschland sind arm, warnt der Paritätische Wohlfahrtsverband.
► 22,5 Prozent der Beschäftigten in Deutschland verdienen unter 10,50 € die Stunde
www.huffingtonpost.de/gero-raske/hartz-iv-armut-freundin-frau-sudium_b_18148342.html