Die Erfolgsgesellschaft und die Erfolglosigkeit////Scheitern am Scheitern
Sunday, den 31. May 2015Am Rand der Erfolgsgesellschaft – wenn die Handlungsmöglichkeiten gegen null gehen und das Leben nur noch aus Folgen von Folgen von Folgen besteht.
Aus den Geisteswissenschaften stammt die Einsicht, dass sich die Bedeutung eines Begriffs nicht aus diesem selbst erschliesst, sondern erst aus dem Verhältnis, das ein Begriff zu anderen hat. Dies trifft auch auf das «Scheitern» zu, das sich grundlegend aus der Unterscheidung erklärt, die Scheitern gegenüber seinem Gegenteil bezeichnet. Die Negativität des Scheiterns, die uns dazu veranlasst, Scheitern zu vermeiden, tritt erst dadurch hervor, dass ihm als Gegenpol der Erfolg gegenübersteht, der im Unterschied zum bedrohlichen Scheitern gewöhnlich von allen angestrebt wird.
Scheitern setzt Handeln voraus, und Handeln strebt nach Erfolg. Erfolg und Scheitern sind daher fest miteinander verbunden. Nur wo gehandelt wurde, kann man auch scheitern, an eigenen Zielen oder Ansprüchen, an widrigen Umständen, am Widerstand anderer Akteure und schliesslich auch an sich selbst. Je nachdem, worin jemand seine Ziele verfehlt, sprechen wir von Misserfolg oder Misslingen, wenn ein Scheitern sich hinsichtlich einer Sache vollzieht; von Niederlagen, wenn das Scheitern den negativen Ausgang eines Wettstreits betrifft; von Versagen, wenn ein Scheitern als selbstverschuldet charakterisiert werden soll.
Wie ein Schiff zerbirst
Gleichwohl hebt sich Scheitern vom einfachen Misslingen gravierend ab. «Scheitern» entstammt der nautischen Welt und geht auf das «Zerscheitern» eines Schiffes zurück, das an einem Felsen zerbirst und in einzelne Holzscheite zerfällt. Das auf diese Weise «gescheiterte» Schiff löst sich in seine Bestandteile auf und ist unwiederbringlich verloren. – Im Unterschied zu blossen Misserfolgen, die demnächst wieder korrigiert werden könnten, steht beim Scheitern infrage, ob es überhaupt weitergeht, nachdem das Schiff des Lebens auf Grund gelaufen ist. Lebenspraktisch nimmt die Dramatik des Scheiterns dabei zumeist unterschiedliche Intensitätsgrade an. Wer bestimmte Handlungsziele verfehlt, wird mit einzelnen Fehlschlägen konfrontiert. Die geplante Karriere dahin, die Ehe zerrüttet, das Eigenheim unter dem Hammer. Scheitern heisst dann, dass in bestimmten Sinnbereichen des Lebens die Handlungsmöglichkeiten enden.
Doch solange überhaupt noch gehandelt werden kann, bleibt Scheitern nur auf einzelne Lebensinhalte bezogen und häufig auch zeitlich begrenzt. Anders jedoch, wenn ein Scheitern das Ende aller Handlungsmöglichkeiten bezeichnet und man in eine Lebenslage gerät, die keine Anschlüsse mehr kennt und jedes Handeln unmöglich macht. Dies geschieht typischerweise, wenn mehrere Fehlschläge zusammenkommen und zu einem persönlichen Niedergang und einer Lebenskrise führen, aus der man alleine und vielleicht selbst mit Hilfe anderer nicht mehr herausfinden kann.
Dieses absolute Scheitern, das nicht limitiert ist durch Kontinuitäten in anderen Lebensbereichen, löst nicht nur alle Handlungspläne in nichts auf, sondern lässt auch die Person des Scheiternden selbst grössten Schaden nehmen. Wer so scheitert, wird in jeder Hinsicht auf null gesetzt. In der Sachdimension des Handelns fehlen alle Mittel und Ressourcen, um noch irgendein eigenes Ziel in Angriff nehmen zu können. In der Zeitdimension ist dem Scheiternden der Handlungshorizont abhandengekommen – alles wird kontingent. In der Sozialdimension führt es zu einer zunehmenden Isolation, und in der Sinndimension des Handelns tritt ein persönlicher Bedeutungsverlust ein, da nichts im eigenen Leben noch die Wertigkeit hat, die ihm einst zugemessen wurde.
Handlungsunfähigkeit, fehlende Anschlüsse und Sinnverlust sind die wichtigsten Merkmale des Scheiterns, wenn es als absoluter Endpunkt eintritt. Es stellt die ganze Identität einer Person infrage und am Ende nicht selten die Person selbst, die psychisch und physisch zunehmend verfällt. Derartiges Scheitern scheint uns eine existenzielle Erfahrung zu sein, die verschiedenste Kulturkreise und geschichtliche Zeiten umfasst. Doch bedarf es gewisser historischer Voraussetzungen, um Scheitern wie heute als Zusammenbruch einer Biografie zu empfinden.
Vor dem Anbruch der Moderne wurde Scheitern kaum als persönliches Versagen oder als Misslingen individueller Handlungspläne begriffen. Die Geschicke des Lebens schienen dem kollektiven Bewusstsein nicht verfügbar zu sein. Wem durch Stand, Glaube oder Geschlecht der Platz im Leben unabänderlich zugewiesen wurde, der vermochte keine Ambitionen zu entwickeln, an denen er oder sie scheitern konnte. Erst in der Moderne entwerfen sich Erwartungen und Pläne in eine noch unbekannte Zukunft hinein, die durch eigenes Tun handelnd erreicht werden soll. Und erst durch diese Öffnung in das Unbekannte entsteht die Gefahr, durch Verfehlen seiner Ziele sich selbst zur Enttäuschung zu werden.
Wettbewerbe und Bilanzen
Auch erlebt niemand sein Scheitern als ein überzeitliches Phänomen oder so, als ob sich die anthropologische Konstante des Misslingens rein zufällig die eigene Person ausgesucht hätte. Anlässe, Folgen und Bewertungen des Scheiterns sind stets von konkreten Umständen geprägt, die keine Universalien sind. Auch der Gegenpol des Scheiterns – das erfolgreiche Handeln, schlichtweg: der Erfolg – ist keine Kategorie von zeitlos gleicher Gültigkeit. In der modernen Gesellschaft hat Erfolg eine allgemeine Kulturbedeutung angenommen, als eine Art Pflicht, will man mit gesellschaftlicher Anerkennung rechnen. Kaum je ist es so alltäglich geworden, sich beruflich oder privat gegenseitig Erfolgsbilanzen zu präsentieren, um die Wertigkeit des eigenen Selbst zu betonen und den persönlichen Vorrang zu unterstreichen.
Doch Erfolg und Scheitern bedingen einander und steigern sich gegenseitig. Je süchtiger eine Gesellschaft nach dem Erfolg greift, umso mehr Konkurrenten wetteifern um ihn, was in der Folge eine zunehmende Anzahl von Akteuren leer ausgehen lässt. Je grossartiger Erfolge aufzutrumpfen versuchen und je bedeutsamer sie für den gesellschaftlichen Status sind, umso deprimierender der Misserfolg, mit dem sich ein persönliches Scheitern ankündigen kann.
Die entscheidende Ursache hierfür liegt in der Herausbildung einer modernen Wettbewerbsgesellschaft. Einander im Modus des Wettbewerbs zu begegnen und andere wie sich selbst im Hinblick auf die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu bewerten, ist mittlerweile zu einer alltäglichen Praxis geworden. Die zeitlichen Abstände, in denen sich Personen beruflichen Wettbewerben ausgesetzt sehen, haben sich erheblich verkürzt. Wer beim erfolgreichen Eintritt in eine berufliche Position bisher eine gewisse Sicherheit erlangt hatte, sieht sich heute nach kurzer Zeit wieder zur Disposition gestellt. Im Wettbewerb erreichte Positionen werden viel seltener dauerhaft, sondern müssen immer wieder aufs Neue erkämpft werden. Im Arbeitsleben schlägt sich der zunehmende Wettbewerbsdruck in engmaschigen Leistungs- und Erfolgskontrollen nieder, die den Einzelnen dem Gefühl ständiger Bewährungsproben aussetzen und damit auch der anhaltenden Gefahr des Scheiterns.
Wettbewerbe sind Ausscheidungskämpfe und daher notwendigerweise damit verbunden, dass sie Verlierer produzieren. Besonders zahlreiche Verlierer werden erzeugt, wenn die Gewinne allein denjenigen zufallen, die sich am erfolgreichsten durchsetzen konnten, während viele vollkommen leer ausgehen. Märkte, auf denen die Gewinner alles bekommen, werden von einer Konkurrenz beherrscht, die geradezu eine grosse Zahl von Verlierern erzwingt. Weil in der heutigen Gesellschaft mehr und mehr allein Marktregeln regieren, werden auch Sozialschichten den Risiken von Wettbewerben ausgesetzt, die sich früher noch vergleichsweise sicher fühlen konnten. Dies ist der Grund für die stetig wachsende Zahl jener, die vom Scheitern bedroht sind oder zumindest fürchten müssen zu scheitern, wenn sie die Bewährungsproben der Märkte nicht sicher bestehen.
Der Fluchtpunkt aller Wettbewerbe ist der Erfolg, das heisst das Sichdurchsetzen gegenüber Konkurrenten, wodurch sich gesellschaftliche Vorteile einstellen sollen. Zur ostentativen Sichtbarkeit von Erfolgen tragen ungewollt die Erfolglosen bei, weil nur im Vergleich mit den Gescheiterten Erfolg eine besonders starke Unterscheidung ausdrückt und triumphale Züge annehmen kann. Nicht verwunderlich ist, dass in einer solchen Kultur des Erfolgs das Scheitern zum Stigma wird und zu einer seelischen Last. Scheitern fällt auf das eigene Selbst zurück, für das in der Wettbewerbsgesellschaft das Prinzip der Eigenverantwortung gilt. Dadurch verbindet sich Scheitern mit dem Gefühl individuellen Versagens und der Scham darüber, nicht gut genug gewesen zu sein, sich überschätzt zu haben, persönliche Defizite aufzuweisen.
Drei Varianten
Die moderne Pflicht zum Erfolg holt daher am Ende noch ihren Gegenpart ein, und so kandidiert heute das Scheitern selber dafür, erfolgreich bewältigt zu werden. Unter den drei Varianten des Scheiterns, die wir gegenwärtig beobachten können, ist mithin jene die auffälligste, die sich als die heroische Version des Scheiterns bezeichnen lässt. Ihre Losung lautet «Scheitern als Chance» oder – wie jüngst ein Coaching-Seminar in Frankfurt ankündigte – «Scheitern als Kraft auf dem Weg zu Wachstum, Aufbruch und Erneuerung».
In seiner heroischen Variante gilt Scheitern «als Voraussetzung für künftige Erfolge», wie dies im Wirtschaftsmagazin «Brand eins» hiess, das dem Scheitern unlängst ein ganzes Heft gewidmet hat. Scheitern, so kann man hier lesen, sei ein «unverzichtbares Momentum für den Erfolg» und wichtiges Element einer «Gründer-Kultur», weil Wagnis und Risiko zur DNA der Marktwirtschaft gehörten. Auch dürfe Scheitern kein Makel sein, weshalb wir eine «Kultur des Scheiterns» brauchten. Damit ist in der Regel allein das unternehmerische Risiko gemeint, das durch die heutigen Insolvenzregeln und betriebliche Rechtsformen vergleichsweise abgesichert ist.
Scheitern nimmt sich hier als Leistungsnachweis aus, als kathartische Etappe auf dem Weg zum Erfolg. Und wenn es am Ende trotzdem nicht klappen sollte, steht das verwandte Sinnmuster des tragischen Scheiterns bereit, das schicksalsträchtig vorgibt, an einer Aufgabe verzweifelt zu sein, die niemand bewältigen könne, und sei es nur eine falsche Regierung. Der Vorsitzende der deutschen FDP, Christian Lindner, hat in einem solchen Format vor einigen Monaten seine sogenannte Wutrede im Düsseldorfer Landtag gehalten, in der er sich zum unternehmerischen Scheitern bekannte. Seine 2001 pleitegegangene Internetfirma hatte 1,4 Millionen Euro von der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau an Förderkrediten erhalten, für deren Verlust freilich der Steuerzahler einstehen musste – so viel zum unternehmerischen Risiko.
Eine weitere Sinnvariante des Scheiterns stellt die ironische Weise dar, mit dem eigenen Schiffbruch umzugehen. Hier lautet die Losung «schöner scheitern», womit die persönliche Erfolglosigkeit zur Lebenskunst weiterentwickelt werden soll. Verstärkt durch eine kulturelle Strömung, die die Kunst des Verlierens entdeckt, nimmt der notorische Pechvogel so etwas wie einen Kultstatus ein. Dessen cineastische Ikone im zeitgenössischen deutschen Film ist etwa der Ostberliner «Wendeverlierer» Jaeckie Zucker, den Dani Levy 2004 in seiner Komödie «Alles auf Zucker!» in Szene gesetzt hat. Eine Kultstätte des ironischen Scheiterns ist bis heute der «Club der polnischen Versager», der in der Berliner Ackerstrasse beheimatet ist.
Der ironische Entwurf des Scheiterns entlastet die eigene Person dadurch von Vorwürfen, dass die Ursache von Fehlschlägen in der Kontingenz des Lebens selbst gesucht wird, die nicht nur jeden treffen kann, sondern auch Abenteuer verspricht. Indem das «schöner scheitern» das gesellschaftliche Erfolgsprogramm gleichsam als eine umgekehrte Sinnvariante zelebriert, legt es aber andererseits Zeugnis davon ab, wie stark es an die Pflicht zum Erfolg doch selber gebunden ist.
«Folgen von Folgen von Folgen»
Die dritte Variante des Scheiterns schliesslich ist jene, von der in der deutschen Gegenwartsliteratur etwa Thomas Melles Roman «3000 Euro» erzählt. Er hat den Absturz eines verschuldeten Ex-Jurastudenten zum Thema, der schliesslich in der Obdachlosigkeit landet. Merkmal dieses profanen Scheiterns ist es, gerade keine Losung vor sich hertragen zu können, ja häufig kaum erzählbar zu sein – es sei denn in einem eindringlichen Roman. In «3000 Euro» berichtet der Protagonist: «Es gibt keine Ereignisse mehr, es gibt nur noch Folgen in meinem Leben, und Folgen von Folgen von Folgen, die das Leben ins Unerträgliche verzinsen.» Was hier zum Ausdruck gebracht wird, ist Scheitern als vollkommenes Fehlen von Anschlussfähigkeit; das frühere Leben findet keine Fortsetzung mehr, weil es von den «Folgen von Folgen von Folgen» restlos aufgezehrt wurde.
In krassem Gegensatz zum Versuch, Scheitern als Innovationsmotor der Wettbewerbsgesellschaft darzustellen und in einen Wertbeweis der Leistungsgesellschaft umzudeuten, ist hier ein absoluter Nullpunkt völliger Handlungsunfähigkeit erreicht. Eine solche Erfahrung eignet sich weder für Heroismus noch für Ironie. Da solches Scheitern zudem häufig schleichend einsetzt, vergleichsweise banale Vorfälle plötzlich bedrohliche Konsequenzen nach sich ziehen, kleine Fehler grosse Auswirkungen haben, gibt das banale Scheitern keinen Stoff für erbauliche oder unterhaltsame Geschichten ab. Gerade die Trivialität der Umstände des Scheiterns lässt den Scheiternden häufig ratlos bei der Frage nach den Ursachen zurück, die ihn am Ende immer nur wieder mit sich selbst und dem eigenen Versagen konfrontiert.
Inmitten einer Kultur des Erfolgs, die noch das Gegenteil des Erfolgs für sich zu verwerten versucht, nimmt der profane, alltägliche, sensationslose Niedergang die paradoxe Gestalt einer erfolglosen Form des Scheiterns an, eines Scheiterns am Scheitern, für das es kaum eine Erzählung, kaum eine Öffentlichkeit, kaum eine Entschuldigung und kaum eine Nachsicht gibt.
Prof. Dr. Sighard Neckel lehrt Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und ist Mitglied des Kollegiums des Instituts für Sozialforschung. Jüngste Buchpublikation, zusammen mit Greta Wagner: «Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Leistungsgesellschaft» (Suhrkamp 2013).