Weihnachtsgeschichte: IGOR
Igor lag in seinem Bett und schaute sich in seinem Dachgeschoßzimmer um.
Den orangenen Teppich, den seine Eltern ausgesucht hatten wegen der guten Qualität
(„ Später wird das eine tolle Einliegerwohnung werden!“) mochte er nicht. Er fühlte sich wie immer fremd, gerade dort wo er war. In seinem eigenen Zimmer machte ihm dieser Zustand nicht mehr soviel aus, er hatte sich lediglich daran gewöhnt und seine bescheidenen „Duftmarken“ in jeder Ecke des Raumes hinterlassen.
Sein Blick fiel über die Stereoanlage, die ihm seine Großeltern zu Weihnachten geschenkt hatten. Bei der Bescherung, nachdem er alles Geschenkpapier weggerissen hatte, konnte er seine Aufregung nicht mehr verbergen und lief dermaßen rot an, dass es ihm peinlich war.
Warum mussten ihm solche unangenehmen Situationen immer wieder passieren?
Sein Gesicht war sowieso dahin, überzogen mit Aknepusteln (sogar hinten am Hals hatter er welche ) und sein spärlicher Bartflaum wuchs vollkommen unebenmäßig an den unmöglichsten Stellen.
Er hatte unregelmässige Zotteln im Gesicht, die er sich nicht traute zu rasieren wegen der Akne, die sonst zu bluten anfing, da sie weder Rasierschaum noch Rasierwasser gut zu vertragen schien, geschweige denn die scharfen Klingen eines Rasierapparates.
Igor lag also im Bett und er hatte viel Mühe darauf verwandt verrotzte und verwichste, zusammengeknüllte Tempotaschentücher zu entfernen. Das Schrubben des Lakens hatte ihn 1000 Stunden gekostet, um die Spermaflecken, die jede Nacht mehr wurden, im Schweiße seines Angesichts, mehr oder weniger unsichtbar zu machen.
Igor hatte sich schon lange damit abgefunden, dass er die Nullnummer auf dem Schulhof war. Ingo, das Physikgenie. Igor, der einsame 1, 0-er Kandidat. Nullnummer eben.
Durch die Wand hörte er seine jüngere Schwester giggeln. Sie hatte eine Freundin bei sich und die beiden Nymphen führten ihre Frauentalks.
Manchmal war er im Stande einzelne Sätze der beiden durch die Wände aufzuschnappen.
„Ja, scheiße, ich habe soviel Haare an den Beinen. Soll ich sie mir rasieren oder doch lieber mit Creme entfernen?“ Und dann meinte er eine Antwort darauf zu hören, ungefähr so: „Wenn er dich richtig liebt, nimmt er dich auch so.“
Seine Schwester hatte seit geraumer Zeit einen Freund, der Igor sehr sympathisch war. Er gehörte auch zu den 1, 0ern. Aber er war keine wirkliche Nullnummer, da er ja seine Schwester Ursel befummeln durfte.
Igor stöhnte und wischte schnell alles mit Klopapier sauber. Darin hatte er Routine gewonnen. Es gab zwei Handlungen in seinem Leben, die ihn souverän erschienen ließen: An der Tafel in der Physikstunde etwas den anderen erklären und eben beim Abwischen seiner meist Frühejakulationen mit Klopapier.
Diese Fähigkeiten konnte ihm nicht jeder nehmen.
Er machte kurz die Augen zu, um sich für ein paar Sekunden als Held und Sieger zu fühlen. Sein Schwanz lag dabei in seiner Hand, immer noch latent am Zucken, aber für die erwähnten Sekunden fühlte sich dieser Zustand tatsächlich an wie ein die Übergabe eines Siegerpokals, irgendwo an einem imaginierten Podest.
Wieder fiel sein Blick auf die Stereoanlage und dann ein paar Zentimeter drunter auf seine spärliche Plattensammlung.
Led Zepplin, Deep Purple, dazu konnte er sich super gut betrinken und die Schulhofszenarien für kurze Zeit vergessen. Auch das Gegacker von Ursels dreizehnjähriger Freundin, die zumindest musikalisch einiges auf dem Kasten hatte.
Von ihr hatte er sich mal eine R.E.M-Platte geliehen. Sie hatte was von College-Radio in Amerika usw. dazu erzählt und geschwärmt, dass R.E.M in ein paar Jahren das große Ding europaweit sein würden.
Ein großes Ding, darauf wartete er schon sein ganzes Leben lang bzw. besser, zwei große Dinger, die er, damit sie ihn nicht erdrückten, vorher in beide Hände nehmen sollte und wollte.
Er hatte aufgehört Pornozeitschriften zu lesen. Es war langweilig geworden und schränkte auf Dauer seine Fantasie ein. Erstens hasste er es, wenn die Putzfrau, die einmal die Woche erschien, sie entdeckte. Und zweitens gab er das Geld inzwischen lieber für LPs aus, da hatte man länger etwas davon und manchmal konnte man damit auftrumpfen zum Beispiel bei der kleinen Freundin seiner Schwester, die „Smoke on the water“ auswendig singen konnte und spätestens bei „and fire in the sky“ zu tanzen begann.
Er hatte begriffen: Keine Physikunterrichtsgespräche vor Frauen, kein Angeben mit der Pornozeitschriften-Sammlung. Da liefen sie immer alle schreiend weg. Diese Strategie war bisher jedes Mal ins Leere gelaufen.
Also deswegen R.E.M. usw, irgendwann eine ordentliche Rasur und Frisur und noch noch viel besser: loskommen von dem fränkischen Dialekt, über den sich alle hier in dem anderen Bundesland lustig machten. Igor überlegte sich anzuziehen und dann blieb er doch liegen, um sich auf das Gekichere aus dem Nebenzimmer zu konzentrieren.
Seine Hausaufgaben waren schon lange erledigt.
Eines Tages würde er wissen, was Girls brauchen.