ALLES IST ECHT
Der Wecker klingelt und niemand kann sich mehr dagegen wehren. Roter Punkt oben, roter Punkt unten. Off and on. Die Zeiger kreisen weiter, ticken verlässlich und rhythmisch. Uns wird nichts geschenkt, draußen kräht der Hahn schon viel zu lange, - Folter für die anderen.
Am Rande der Badewanne lachen mich die Sonderangebote an. Die roten Preisschilder verlieren langsam ihre Farbe: Efeu-Gel für 2, 95 auf der einen Seite, Lipide mit Meersalz, Lipide mit Kokosnussöl auf der anderen Seite, Vitamin E für die straffe Haut, Peeling wegen der abgestorbenen Fetzen, jetzt der Duschkopf über meinem Kopf, der Strahl in meinem Gesicht, meine Hand schützend um meinen Busen.
Der Hahn, der kräht wohl immer noch.
Inzwischen bekleidet gehe ich nach draußen auf den Hof und will eine rauchen.
Im Raucherzimmer treffe ich auf meine Lieblingsverkäuferin, eine Griechin: zweimal geschieden, zwei Söhne und seit geraumer Zeit mit einem türkischen, wenn auch verheirateten Liebhaber gesegnet.
Wir blasen Kringel in die Luft. Sie raucht R1- viel zu leicht für mich.
Ich halte mich an meiner Gauloises fest und höre ihren Geschichten zu.
„Er schläft nicht mehr mit seiner Frau“, sagt sie relativ distanziert zwischen Fleischtheke und Petersilien sortieren, „aber unser Sex wird immer besser. Neulich hatte ich sie am Apparat, aus Versehen. Ob sie etwas ahnt?“
Ich atme erstmal aus.
Da sind sie also die Geschichten auf die niemand eine RTL-Kamera hält. Und ich erfahre sie nun ohne Werbeunterbrechung, irgendwelchen komischen Jingles zwischendurch und Satelittenschüsseln auf dem porösen Dach.
Sie sieht mich fragend an. Ihre schwarzen langen Locken umrahmen ihr stark geschminktes Gesicht. Die 5-Minuten-Pause der Verkäuferin ist zu Ende gegangen. Sie lässt mich mit ihrer Geschichte allein. Ich kann auch schweigen.
Die weiteren Stunden ziehen an diesem nichtsnutzigen Tag vorbei und meine Haare trocken dabei nur langsam. Auf den ausrangierten Traktoren kurz vor dem hofinternen Büro sitzen zwei Kinder und spielen Bauernhof.
Edgar Reitz fällt mir plötzlich ein. Karl mag den so.
Ich spiele nicht. Alles ist echt.
September 29th, 2005 at 9:50 pm
Hey Julia,
du lustige Strickliesl! Google hier gerade wild nach Poetry Slams und Central Stationen und stolpere plötzlich über deine unvermittelbaren Sätze. Das Web ist ein Dorf in der Wetterau. Ich bin beeindruckt. Nur schlauer leider nicht. Drum frag i di: Liest du eigentlich demnächst mal wieder irgendwo? Und wann steigt die Schlamm-Schlacht in Darmstadt? Konnte unter Central Station nix finden. Oder verwechsel ich da was?
Grüß Gott
K.
September 30th, 2005 at 7:48 pm
lieber kimmo,
ich habe letzte woche in darmstadt gelesen, allerdings im literaturhaus.
die leute von der central station haben sich leider nicht mehr gemeldet.
bringe aber im januar ein buch mit einer malerin heraus.
lg
julia.